Die PPR wird in Österreich als Instrument verwendet, um den Personalbedarf an Pflegekräften auf einer Station zu bestimmen [Mehr zum Thema – Was ist die PPR?]. Dazu werden PatientInnen einer Pflegekategorie zugeordnet – je höher die Kategorie, desto höher ist die Pflegeintensität. Doch die PPR wird den heutigen Qualifikationen der modernen Gesundheits- und Krankenpflege nicht gerecht. Damit in Zukunft die Qualität der Pflege verbessert und eine PatientInnen-orientierte ganzheitliche Pflege und Betreuung realisiert werden kann, braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit der PPR und der PPR 2.0.
Keine einheitliche Version in Österreich
Die PPR wird seit 1993 in verschiedenen Versionen in den österreichischen Kliniken genutzt. Selbst die ÖNORM zur PPR findet keine homogene Anwendung in Österreich. In oberösterreichischen Kliniken wird nicht nur die fehlende Weiterentwicklung der PPR, sondern auch die PPR als Berechnungsgrundlage in Frage gestellt (Staflinger, 2019).
„An der PPR ist ganz lange nichts mehr weiterentwickelt worden in Oberösterreich. Bei uns im Bundesland gilt ja auch nicht die PPR-Österreich, sondern die PPR-Oberösterreich, die eine abgespeckte Variante ist und schon lange nicht mehr das hergibt, was der Pflegebedarf ist.“ (Staflinger, 2019, S.241).
„Aber es ist halt aus meiner Sicht, wir haben sie im Hintergrund immer noch laufen. Wir schauen auch immer wieder mal drüber. Aber es ist halt einfach, mit der GuKG-Novelle und der Übernahme gewisser Tätigkeiten durch die Pflege nicht mehr zeitgemäß.“ (Staflinger, 2019, S.241).
Keine einheitliche Einstufung
Pflegepersonen stufen die Patienten und Patientinnen in Pflegekategorien ein. Doch die Pflegekategorien fallen unter Kollegen und Kolleginnen zu den gleichen PatientInnen unterschiedlich aus, da keine einheitlichen und nachvollziehbaren Einstufungskriterien bestehen. Denn die Kriterien zur Einstufung sind abstrakt und bilden keine konkreten Pflegemaßnahmen ab (Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018; Pelchen & Wieteck, 2014; Wieteck, 2015).
Ein Beispiel für die Ungenauigkeit der Einstufung im Bereich der Körperpflege:
- „Hilfe bei überwiegender selbstständiger Körperpflege (A2)“
- „Hilfe bei überwiegender oder vollständiger Übernahme der Körperpflege (A3)“
(Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018; Pelchen & Wieteck, 2014; Wieteck, 2015).
Durch die abstrakten Einstufungskriterien ist die PPR ungeeignet, den pflegerischen Bedarf tatsächlich zu erfassen. Denn die Einstufungen A1-A3 haben eine sehr hohe Abweichung innerhalb ihrer eigenen Gruppe. Das heißt, es kann A1 Patienten/Patientinnen geben, die keine pflegerische Unterstützung brauchen. Andererseits kann es A1 Patienten/PatientInnen geben, die eine Harninkontinenz aufweisen, zu dieser Harninkontinenz pflegerische Beratung nach dem Pflegeprozess benötigen, aber sich selbstständig versorgen können und daher als A1 Patient/Patientin gelten. Der Pflegebedarf und der Pflegeaufwand werden somit unzuverlässig gemessen. Die hohe Varianz innerhalb der Gruppen kann dazu genutzt werden, PatientInnen gezielt höher einzustufen, als dies dem tatsächlichen Pflegeaufwand entspreche (Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018; Pelchen & Wieteck, 2014; Wieteck, 2015).
Die Pflege wird reduziert…
Die Aussagekraft und der Ansatz der PPR sind infrage zu stellen (Eber & Flerchinger, 2011). Denn die PPR bezieht den Großteil pflegerischer Qualifikationen nicht mit ein. Sie reduziert die Pflege allein auf die Leistungsbereiche „Körperpflege“, „Ausscheidung“, „Ernährung“ und „Bewegung und Positionierung“ und hält selbst diese Leistungen grob und abstrakt, womit die Qualität der Pflege nicht definiert und gemessen werden kann (Wieteck, 2015).
Die GuKG-Novelle 2016 hat nicht nur die Pflegefachassistenz neu eingeführt, sondern auch die Qualifikationsprofile der Berufsgruppen der Pflege erweitert (Hausreither & Lust, 2017). Doch die neuen Kompetenzen der Pflege wurden nach der GuKG-Novelle 2016 ebenso wenig in die PPR eingearbeitet (Staflinger, 2019).
Unrealistische Zeitwerte
Für jeden Tätigkeitsbereich in der Allgemeinen und Speziellen Pflege ist für den ganzen Tag eine bestimmte Zeit vorgesehen, das im Schema der PPR festgelegt ist.
„Die hinterlegten Zeitwerte im A2 und A3 Bereich erlauben keinesfalls eine pflegerische Versorgung, welche den Ansprüchen an eine patientenorientierte, aktivierende und evidenzbasierte Pflege entsprechen würde“ (Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018, S. 13).
Eine Pflegeperson hätte nach den Zeitwerten bei einem/einer A3 Patienten/Patientin für den ganzen Tag insgesamt 32 Minuten Zeit, alle drei Mahlzeiten des Tages einzugeben (Fachgesellschaft Profession Pflege e.V. 2018).
„Innerhalb von insgesamt 32 Minuten ist bei einem in die Stufe A3 eingruppierten Patienten, der sich weder eigenständig an den Tisch setzen kann noch selbstständig das Glas zum Trinken zum Mund führen kann. [sic!] eine adäquate Nahrungs- und Flüssigkeitsverabreichung über 24 Stunden hinweg nicht machbar.“ (Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018, S. 13).
Die Zeitwerte der ursprünglichen PPR basieren nicht auf empirischen Daten. Sie sind anhand der Berufserfahrung der ExpertInnengruppe, die die PPR damals erstellt hat, festgelegt (Eberl & Flerchinger, 2011).
Keine Einbindung in den Pflegeprozess
Die PPR erfasst grobe Leistungsbereiche und keine Einzelinterventionen, daher kann sie nicht in den Pflegeprozess eingebunden werden. Sie bietet keine Hilfe in der Dokumentation des Pflegeprozesses, noch bei der pflegerischen Entscheidungsfindung zur weiteren pflegerischen Versorgung von Patienten und Patientinnen (Isfort & Weidner, 2001, zit. nach Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018). Das führt in den Kliniken bei pflegerischen Leistungen innerhalb des Pflegeprozesses zur Doppeldokumentation (Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018).
Schließlich reichen die Informationen aus der PPR nicht aus, um eine pflegerische Versorgungskontinuität sicherzustellen. Die PPR gibt keinen Aufschluss über das Ziel, die Anzahl, Dauer und den Grund einer pflegerischen Leistung (Kuhlmann, 2003, zit. nach Fachgesellschaft Profession Pflege e.V., 2018).
Persönliche Worte
Die PPR liegt in verschiedenen Versionen in den österreichischen Kliniken vor. Daher ist es schwierig abzuschätzen, wo Weiterentwicklungen der PPR stattgefunden haben. Die im Artikel beschriebenen Kritikpunkte beziehen sich auf die ursprüngliche Form der PPR, die in Österreich ebenso noch Anwendung findet (Staflinger, 2019).
Es liegen keine Daten zur Validität und Reliabilität der PPR vor (Isfort et al., 2001; Kuhlmann, 2003, zit. nach Pelchen & Wieteck, 2014). Aufgrund der Tatsachen, dass die PPR die Pflege auf grobe und eingeschränkte Leistungsbereiche reduziert, der pflegerische Bedarf nicht bestimmt werden kann und der Pflegeprozess in diesem Instrument nicht eingebunden wird, ist der Nutzen der PPR stark zu bezweifeln. Mit großer Sicherheit kann gesagt werden, dass die PPR, egal in welcher Version und Weiterentwicklung (PPR 2.0), die Gesundheits- und Krankenpflege nicht repräsentieren kann.
Die PPR kann aus den oben genannten Kritikpunkten keine ganzheitliche und PatientInnen-orientierte Pflege garantieren. Die Arbeit der Pflegepersonen, die in der PPR nicht erfasst wird, wird nicht gewürdigt. Solange sich die Berechnungsgrundlage nicht den neuen Anforderungen der Gesundheits- und Krankenpflege anpasst, wird keine Besserung im Personalschlüssel verwirklicht.
Die PPR 2.0 soll in Deutschland neu anlaufen und zu einem besseren Personalschlüssel beitragen. Hier gelten die oben genannten Kritikpunkte genauso wie für die ursprüngliche PPR. Die neuen Zeitwerte in der PPR 2.0 sind nicht bekannt. Ein wichtiger Punkt ist, dass sich Österreich kein Beispiel an der PPR 2.0 nimmt. Denn es ist nicht auszumachen, wie zwei Pflegepersonen 21-40 PatientInnen und drei Pflegepersonen 41-50 PatientInnen betreuen sollen (grob geschrieben) (Deutsche Krankenhaus Gesellschaft, Deutscher Pflegerat e.V., & ver.di (2020). Das ist nach meiner Meinung fahrlässige und gefährliche Pflege.
An alle KlinikträgerInnen, Führungskräfte im Bereich der Pflege –
die Gesundheits- und Krankenpflege besteht nicht nur aus der Körperpflege, Ernährung, Ausscheidung und Bewegung und Positionierung. Ich rate ein System zur Berechnungsgrundlage zu entwickeln, in dem Pflegepersonen nicht argumentieren müssen, warum sie so und so viel Personal brauchen. Aber genau das machen sie gerade mit der PPR. Sie müssen mit der Einstufung der PatientInnen argumentieren, warum auf einer Station so und so viele Pflegepersonen benötigt werden. Dadurch verfälschen sie die PPR und zeigen zusätzlich, wie ungeeignet das System ist.
Vor allem ist ein Plus in der PPR kein Anzeichen dafür, dass genug Personal auf einer Station vorhanden ist. Aufgrund der oben genannten Kritikpunkte kann sie nämlich nicht als Argument für einen ausreichenden Personalschlüssel herangezogen werden. Sobald ein Personalmangel auf der Station gemeldet wird, ist es Aufgabe einer Führungskraft sich die Lage abseits der Zahlen anzusehen. Vor Ort dabei zu sein und die Arbeit der Pflegepersonen zu beobachten.
Eure AGKP
Quellen:
Deutsche Krankenhaus Gesellschaft, Deutscher Pflegerat e.V., & ver.di (2020). Eckpunkte zur Umsetzung der PPR 2.0. Verfügbar unter: Eckpunkte zur PPR 2.0 [30.09.2020].
Eberl, I., & Flerchinger, C. (2011). Leistungsbezogene Personalberechnung. Pflegeleistungen adäquat abbilden. Lerneinheit Pflegewissenschaft in CNE.online, Thieme: Stuttgart. doi: 10.1055/s-0033-1353530.
Fachgesellschaft Profession Pflege e.V. (2018). Konzept zur Pflegepersonalbedarfsmessung im Krankenhaus. Verfügbar unter: Konzept zur Pflegepersonalbedarfsmessung [20.06.20].
Hausreither, M., & Lust, A. (2017). Berufsbild und Tätigkeitsbereich der Pflegeassistenzberufe. Österreichische Zeitschrift für Pflegerecht, Beilage I(1), I-IV.
Pelchen, L., & Wieteck, P. (2014). Adäquate Personalbesetzung. Positionspapier 2014. Verfügbar unter: Adäquate Personalbesetzung [15.09.2020].
Staflinger, H. (2019). Personalbedarf und -einsatz in den oö. Krankenhäusern. Grundlagen – Herausforderungen – Entwicklungsbedarf. Linz: Arbeiterkammer Oberösterreich.
Wieteck, P. (2015). Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung. Baar-Ebenhausen: Deutscher Bundestag – Ausschuss für Gesundheit.
Hallo!
Interessanter Beitrag.
Liebe Grüße
Erich